Rubrik: Hilfe nach Suizid - Die Rolle von Testamenten und Abschiedsbriefen nach einem Suizid
- Mario Dieringer
- 24. Juli
- 4 Min. Lesezeit

Wenn Worte bleiben, nachdem ein Mensch gegangen ist
Es gibt zwei Arten von Abschieden nach einem Suizid. Die einen gehen und hinterlassen nichts als Stille. Kein Brief, keine Erklärung, kein letzter Versuch, die Unfassbarkeit ihres Todes in Worte zu pressen. Und dann gibt es die anderen – die, die ein Testament hinterlassen, einen Abschiedsbrief, eine Nachricht auf dem Küchentisch, eine letzte digitale Spur. Manchmal sind es nur ein paar Sätze. Manchmal seitenlange Briefe, in denen sich die Verzweiflung, der Schmerz und die zermürbende Einsamkeit über Jahre hinweg aufgestaut haben. Bei mir waren es 120 Sprachnachrichten.
Ich weiß, wie sich das anfühlt. Der Zettel auf dem Tisch. Die Worte, die man sich hundertmal durchliest, weil man hofft, irgendwo zwischen den Buchstaben einen Fehler zu finden. Einen Hinweis darauf, dass es doch nicht endgültig ist. Ich kenne auch das andere – das lähmende Nichts. Die Sprachlosigkeit, die die Zurückbleibenden zerfrisst. Weil keine Erklärung immer die schlimmste Erklärung ist.
Testamente: Ordnung im Chaos des Todes
Ein Testament nach einem Suizid ist ein seltsames Dokument. Juristisch eine Formalie, emotional eine Bombe. Plötzlich steht dort Schwarz auf Weiß, dass jemand geplant hat zu gehen. Dass es kein Unfall war, keine Affekthandlung, sondern ein Entschluss, über den nachgedacht wurde.
Manche versuchen, mit einem Testament Ordnung ins Chaos zu bringen. "Ich will nicht, dass ihr euch um mein Erbe streitet." "Verkauft das Haus, spendet das Geld." Ein Versuch, Kontrolle zu behalten, selbst wenn sie längst verloren ist. Aber die Wahrheit ist: Kein Testament kann die Leere füllen. Kein Dokument kann die offenen Fragen beantworten, die zurückbleiben.
Und dann gibt es die Testamente, die mehr sind als eine bürokratische Notwendigkeit. Sie sind ein Vermächtnis. Eine letzte Botschaft, eine Art, der Welt noch einmal zu sagen, wer man war. Vielleicht sogar, warum man gegangen ist. Manche Menschen schreiben sie mit kalter Distanz. Andere mit so viel Trauer in den Zeilen, dass es einem die Luft abschnürt.
Ich habe einmal das Testament eines Menschen gelesen, der darin jede einzelne Person in seinem Leben adressiert hat. "Mama, es tut mir leid, dass ich nie der Sohn war, den du dir gewünscht hast." "Papa, ich hätte dich gebraucht, aber du warst nie da." "An meine Schwester – vergiss mich nicht." Keine Erklärungen, nur letzte Worte, wie eingefroren in der Zeit. So hat es auch Jose gemacht. Drei Botschaften in einem Satz, an die Eltern, an sein Kind, an mich. Es liest sich wie ein Versuch, nicht einfach zu verschwinden.
Abschiedsbriefe: Der letzte Dialog
Abschiedsbriefe sind anders. Sie sind roher. Ungeschönt. Manchmal ein Versuch, Verantwortung zu übernehmen – manchmal eine grausame Anklage. Manchmal eine Entschuldigung, oft genug aber auch einfach ein letzter Schrei nach Gehör.
Ich habe Briefe gesehen, die kaum lesbar waren, geschrieben mit zitternder Hand, zerknittert von Tränen. Ich habe auch solche gelesen, die sich anfühlten wie ein kühler Geschäftsbrief: "Ich kann nicht mehr. Macht’s gut." Als wäre es nichts.
Und dann gibt es die Briefe, die Hoffnung zerstören. Die eine Wunde hinterlassen, die niemals heilt. "Ihr seid schuld." "Ich hoffe, ihr leidet." "Jetzt wisst ihr, wie es sich anfühlt." Worte, die schwerer wiegen als der Tod selbst. Worte, die bleiben, wenn der Mensch längst gegangen ist.
Aber es gibt auch die anderen. Die Briefe, die denen helfen, die zurückbleiben. "Bitte lebt weiter." "Es war nicht eure Schuld." "Ich liebe euch, und das hat nichts mit euch zu tun." Diese Worte können ein Anker sein, ein letzter Trost, ein Licht in der Dunkelheit.
Und doch bleibt immer die Frage: Was ist mit denen, die keinen Brief bekommen haben? Die nichts haben, außer Fragen, die nie beantwortet werden?
Worte, die heilen – oder zerstören
Ob Testament oder Abschiedsbrief – Worte haben eine Macht, die wir oft unterschätzen. Sie können eine Brücke bauen zwischen den Lebenden und den Toten. Sie können einen Menschen noch einmal hörbar machen, wenn er längst verstummt ist. Aber sie können auch zerreißen, vernichten, den Schmerz für immer verankern.
Ich weiß nicht, ob es besser ist, einen Abschiedsbrief zu hinterlassen oder nicht. Ich weiß nur, dass Schweigen genauso laut sein kann wie Worte. Und dass kein Brief, kein Testament, keine Erklärung das Loch füllen kann, das ein Suizid reißt. Als ich seine letzten Worte gelesen hatte, hat es mich erst recht zerissen, weil ich mich fragte: Wenn Du das wirklich gefühlt hast, warum hast du dann nicht für uns kämpfen wollen. Ich weiß bis heute nicht, wie diese letzten Zeilen einzuordenen sind und ob es seinen Tod nicht sogar noch verschlimmert hat - irgendwie.
Manchmal wünschte ich, Worte könnten Leben retten. Aber meistens hinterlassen sie nur die Frage: Warum?
Wenn dich dieser Beitrag berührt hat oder du jemanden kennst, der mit den Folgen eines Suizides zu kämpfen hat, dann teile ihn, kommentiere und schreibe mir deine Gedanken oder speichere ihn für später. Manchmal kann genau diese eine Nachricht den Unterschied machen – für dich oder für jemanden, der sie dringend braucht. Lass uns gemeinsam ein Zeichen setzen: Niemand muss diese Last allein tragen. 💙 #DuBistNichtAllein #hilfenachsuizid
Deine Beschreibungen kann ich nicht besser in Worte fassen. Mein Mann nahm sich vor 5 Jahren das Leben. Alles was ich bisher bei dir gelesen habe, habe ich auch erlebt. Danke, dass du deine Erfahrungen öffentlich machst.