Rubrik: Hilfe nach Suizid - Die Bedeutung von Familie und soziale Beziehungen nach einem Suizid
- Mario Dieringer
- 24. Apr.
- 3 Min. Lesezeit

Ich erinnere mich an diesen einen Tag. Den Tag, an dem die Welt einfach nicht mehr die Welt war. An dem jeder Atemzug zu einem verdammten Kraftakt wurde, weil die Luft, die ich einatmete, nicht mehr nach Leben schmeckte. Den Tag, an dem die Zeit in ein Davor und ein Danach zerbrach.
Nach dem Suizid meines Partners wurde mir etwas bewusst, das ich vorher nie wirklich verstanden hatte: Familie ist kein starres Konstrukt aus Blutsverwandtschaft, sondern ein wackeliges Gebilde aus Menschen, die entweder bleiben oder verschwinden, wenn die Welt um dich herum in Flammen aufgeht.
Die ersten Tage waren ein Nebel aus Betäubung und Lärm. Beileidsbekundungen, die mich nicht erreichten, weil Worte nichts wiegen, wenn das Herz aufhört zu glauben, dass es noch schlagen sollte. Manche Menschen, von denen ich dachte, dass sie mir nahestanden, zogen sich zurück. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagten sie im besten Falle – und sagten dann lieber gar nichts mehr. Doch die meisten haben sich einfach in Luft aufgelöst. Ich spürte ihre Angst nicht, sich an meiner Trauer zu verbrennen, ihre Unsicherheit, wie man mit einem Menschen umgeht, der zwischen Schmerz und Wahnsinn taumelt.
Andere blieben. Sie setzten sich zu mir, auch wenn ich schwieg. Sie hielten die Stille aus, die zwischen uns wie ein Schrei hing. Diese Menschen wurden meine Familie. Manche von ihnen waren vorher nur Bekannte, entfernte Weggefährten – aber sie blieben, als es am schwersten war.
Ich lernte in dieser Zeit, dass soziale Beziehungen nach einem Suizid eine radikale Prüfung durchlaufen. Die, die nicht mit der Wucht des Verlusts umgehen können, sortieren sich selbst aus. Und die, die bleiben, die dich auffangen, wenn du eigentlich längst zerschellt bist, werden zu den Pfeilern deiner Existenz.
Aber es gab auch diese Momente – gottverdammte Momente, in denen ich dachte, dass ich allein durch muss. Dass niemand diesen Schmerz teilen kann, weil niemand sonst diese Liebe verloren hat. Dass mich niemand retten kann.
Doch das ist die größte Lüge, die uns die Trauer ins Hirn pflanzt.
Wir brauchen andere Menschen. Wir brauchen diese Hände, die uns hochziehen, wenn wir längst aufgegeben haben. Wir brauchen Stimmen, die uns daran erinnern, dass wir nicht nur der Verlust sind. Dass wir mehr sind als das, was uns genommen wurde.
Und wir müssen wählen. Wählen, wer an unserem Tisch sitzen darf. Wer uns begleiten darf auf diesem langen, zermürbenden Weg zurück ins Leben. Familie ist nicht immer die, in die wir geboren wurden. Manchmal ist es die, die uns in der Hölle begegnet und sagt: „Ich bleibe.“
Und das ist der einzige Grund, warum ich noch hier bin. P.S. Meine Mutter hat es nicht für nötig gefunden, die zwei Stunden Autofahrt auf sich zu nehmen, um mir in der schwersten Zeit meines Lebens beizustehen, sie ist lieber 5 Stunden nach Dresden gefahren, um den dortigen Zoo zu besuchen. Als ich am Telefon sagte: "Ich hätte dich gebraucht", war Ihre Antwort: "Mit fast 50 braucht man seine Mutter nicht". Meine Antwort: "Dann brauchst du auch keinen Sohn ." Seit diesem Tag habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Ich möchte ihn auch nicht mehr. Nicht im Leben und nicht im Tod. Auch nicht zu all den Menschen aus der riesigen Verwandtschaft, die nicht einmal kondoliert haben. Zu keinem. Familie ist keine Verpflichtung und wenn Sie dich durch Schweigen und charakterloses und wertfreies Handeln deinem Schicksal überlassen, ist die Distanzierung ein wahres Heilmittel und ein Segen, der dir hilft zu gesunden. Auch Familie ereilt ihr Karma, das sie verdienen. Du bist für dich allein verantwortlich. Aber sei glücklich, wenn du eine Familie hast, die dir in den dunkelsten Stunden selbstlos beistehen.
Wenn dich dieser Beitrag berührt hat oder du jemanden kennst, der mit Familie nach einem Suizid zu kämpfen hat, dann teile ihn, kommentiere und schreibe mir deine Gedanken oder speichere ihn für später. Manchmal kann genau diese eine Nachricht den Unterschied machen – für dich oder für jemanden, der sie dringend braucht. Lass uns gemeinsam ein Zeichen setzen: Niemand muss diese Last allein tragen. 💙 #DuBistNichtAllein
Hallo Mario, ich finde deine Texte echt klasse und hilfreich, meine Mitglieder aus meiner AGUS Gruppe sehen das auch so wie ich. Vielen Dank dafür und lass es dir und Tyrion gut gehen. Schön,dass es dich gibt 🤗🙋♀️ Bettina Lang