Rubrik: Hilfe nach Suizid / Briefe an die Verlorene – Worte, die heilen
- Mario Dieringer
- vor 3 Tagen
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Briefe an einen, der nicht mehr antwortet
Ich habe deinen Namen oft geschrieben. Mehr, als ich es zählen kann. Am Anfang hast du nur zwischen den Zeilen gelebt. In halbfertigen Sätzen, auf Notizzetteln, die ich irgendwann zusammenknüllte und wegwarf. Zu schmerzhaft. Zu roh. Zu endgültig.
Ich dachte lange, ich müsste still sein, weil du es nicht mehr hören kannst. Aber die Wahrheit ist: Ich habe all diese Worte für mich geschrieben. Weil ich es war, der sie hören musste.
Der Tod nimmt nicht nur den Menschen mit, sondern auch die Gespräche, die nie geführt wurden. Die Worte, die im Hals stecken blieben. Die verdammten Dinge, die man nicht aussprach, weil man dachte, es sei noch Zeit. Und dann ist sie weg. Die Zeit. Und du sitzt da mit deiner Wut, deiner Schuld und all dem, was hätte sein können.
Ein Brief als Rettungsanker
Irgendwann habe ich angefangen, dir zu schreiben. Nicht, weil ich dachte, du würdest es lesen. Nicht, weil ich glaubte, dass ich auf einer mystischen Frequenz mit dir verbunden war. Sondern weil mein Kopf explodiert wäre, wenn ich es nicht getan hätte.
Der erste Brief war eine Anklage. Eine verdammte Kriegserklärung. Ich schrieb, wie wütend ich war. Dass ich es unfair fand. Dass ich dich hasste für das, was du getan hast. Und dass ich mich noch mehr hasste, weil ich dich trotzdem liebte.
Danach kamen andere Briefe. Briefe voller Fragen. Briefe voller Erinnerungen. Manchmal nur ein Satz, den ich in der Nacht aufschrieb, wenn der Schlaf wieder einmal nicht kam: Warum, verdammt nochmal, bist du nicht mehr hier?
Ich schrieb alles auf, was ich nie gesagt hatte. Die Dinge, die mir zu banal erschienen, als du noch lebtest. Das Unwichtige, das plötzlich so wichtig wurde. Ich schrieb dir von meinen Tagen. Davon, dass ich deine Lieblingsjacke immer noch nicht weggeben konnte. Dass ich dich in fremden Menschen zu erkennen glaubte. Dass es Tage gab, an denen ich nicht mehr wusste, wer ich ohne dich war.
Heilung ist ein Akt des Trotzes
Die Griechen sagten, dass ein Mensch zweimal stirbt. Einmal, wenn er seinen letzten Atemzug tut, und einmal, wenn niemand mehr seinen Namen nennt. Ich weigere mich, dich sterben zu lassen. Also schreibe ich weiter.
Jedes Wort auf dem Papier holt ein kleines Stück von dir zurück. Und jedes Wort hilft mir, dich loszulassen. Das ist der verdammte Widerspruch in dieser ganzen Sache.
Ich weiß nicht, ob Schreiben für jeden die Lösung ist. Manche brauchen Stille, manche brauchen Bewegung, manche brauchen Drogen, um diesen Schmerz zu überleben. Ich habe Papier und Tinte. Und das reicht.
Also schreibe ich. Manchmal an dich, manchmal an mich selbst. Weil es nichts Heilenderes gibt, als die eigene Geschichte in Worte zu fassen, bevor sie einen von innen auffrisst.
Vielleicht, eines Tages, lege ich diese Briefe an deinen Grabstein. Oder ich verbrenne sie. Oder ich lasse sie irgendwo im Wind verschwinden.
Aber nicht heute.
Heute schreibe ich noch. Weil ich es kann. Weil ich muss.
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